Versicherungswirtschaft: Ausblick ins Jahr 2030

17. Januar 2022 | Aktuell Interviews
thebroker - Versicherungswirtschaft - Claudio Stadelmann
Claudio Stadelmann ist auf Versicherungen spezialisierter Partner bei BaringPoint Schweiz und hat viel zu sagen zur Versicherungswirtschaft der Zukunft.

Der interessanten Frage nach dem Stand der Versicherungsbranche 2030 geht thebroker.ch in einem ausführlichen Interview mit Claudio Stadelmann, Partner bei BearingPoint Schweiz nach. Das unabhängige Management- und Technologieberatungs-Unternehmen ist in der Schweiz an den Standorten Zürich und Genf vertreten.

Claudio Stadelmann ist Partner bei BearingPoint Schweiz  und publizierte die Studie «Vision 2030. Die Versicherungswelt in der Schweiz».  Damit wagt er einen Ausblick auf die Versicherungswirtschaft in zehn Jahren.

Herr Stadelmann, die Versicherungs- und Brokerbranche erlebt weltweit aufgrund von der Digitalisierung einen grossen Wandel. Sie wagen einen Blick auf das Jahr 2030: Ist das angesichts der schnellen Entwicklung überhaupt möglich?

Mit unserer Studie «Vision 2030 Versicherungen in der Schweiz» möchten wir einen möglichen Ausblick in die Zukunft geben und den Versicherungsunternehmen entsprechende, konkrete Handlungsoptionen aufzeigen.

Welche Versicherer werden sich trotz des rasanten Wandels auch in zehn Jahren behaupten?

Das werden diejenigen Versicherer sein, welche aus bereits heute bekannten Megatrends in der Versicherungsbranche Kapital schlagen werden. Ein Grossteil dieser Megatrends, welche sozioökonomische Landschaft im Jahr 2030 prägen und die Versicherungsbranche entscheidend verändern werden, sind heute bereits bekannt. Durchsetzen kann sich nur, wer erkennt, dass es zwischen heute und 2030 mehr Veränderungen in der Branche geben wird als in den dreissig Jahren zuvor.

Was raten Sie der Versicherungswirtschaft heute, um auch 2030 erfolgreich zu sein?

Versicherungen sollten ihre Geschäftsmodelle überprüfen, ihre Kundenbeziehungen und ihr Produktportfolio überdenken und wo nötig anpassen.

Wie kann sich die Versicherungsbranche am besten auf die «Silver Society», also die immer älter werdende Bevölkerung, vorbereiten?

Mit «Silver Society» ist die Zunahme des Anteils von Menschen im höheren Lebensalter in unserer Gesellschaft gemeint. Dadurch kommt es zu einer Reihe von Veränderungen. Die Bandbreite reicht von der Zahl der Erwerbstätigen, der Höhe der Steuereinnahmen, der individuellen Rentenhöhe und des Eintrittsalters bis hin zu Verschiebungen der Attraktivität von Stadtleben versus Landleben oder der Nutzung von Verkehrsmitteln. Versicherer können das vermehrte Aufkommen der «Silver-Society» von einer Herausforderung zu einer Chance und auf die Übernahme neuer und durchaus lukrativer Risiken machen, beispielsweise in der Versicherungskalkulation. Dies zum Beispiel durch Investitionen in Versicherungsdienstleistungen, welche die Bedürfnisse der Konsument*innen der «Silver Society» abdecken, wie zum Beispiel neue Unterhaltungs- und Freizeitaktivitäten.

Welche Rolle wird die «Silver Society» spielen?

Während der Megatrend «Silver Society» global zu beobachten ist, spielt er in den entwickelten Ländern eine stärkere Rolle. Das subjektive Alter hat im Vergleich zum biologischen Alter an Bedeutung gewonnen. Das gefühlte Alter liegt, wie aus Untersuchungen bekannt ist, in den meisten Fällen unter dem biologischen Alter. Die «Silver Society» im Jahr 2030 ist gesünder als je zuvor. «Down-Aging» bedeutet auch, dass dieses Bevölkerungssegment viel aktiver ist als in der Vergangenheit. Sie führt persönlich und beruflich einen neuen Lebensstil und hat neue Konsumentenbedürfnisse hat, die von der Wirtschaft berücksichtigt werden sollten.

Geht der Trend bei Versicherungsprämien der Krankenkassen aus, geht der Trend in Richtung «Digitale Gesundheit» oder sogar «Pay-As-You-Live»?

Ich gehe schon davon aus, dass wir entlang der heutigen Digitalisierungsmöglichkeiten und den daraus resultierenden neuen Dienstleistungen über teilweise neue Kanäle vermehrt in Richtung «Digitale Gesundheit» gehen. Allerdings bezweifle ich, dass «Pay-as-you-live» Modelle in der Grundversicherung Bestand haben werden, dies schon im Hinblick auf die gesetzlichen Grundlagen. Schliesslich basiert auch die Krankenversicherung auf dem Solidaritätsprinzip als strukturelle Basis.

Ein anderes Thema ist die Mobilität: Sie gehen davon aus, dass langfristig Autos autonom, also ohne Steuerrad, fahren werden. Dies wirft die entscheidende Frage der Haftung für Unfälle bei den Versicherern und den Gesetzgebern auf. Womit rechnen Sie sonst noch?

Das Fahren mit einem Autos, das komplett selbstständig fährt und es damit keine*n menschliche*n Fahrer*in mehr gibt, kann nur durch weitreichende Veränderungen der Grundvoraussetzungen umgesetzt werden. Hierzu gehört neben den technologisch nötigen Innovationen insbesondere die Einführung gesetzlicher Rahmenbedingungen. Davon sind wir heute noch weit entfernt. Im Zeitraum 2025 bis 2030 wird sich wohl das Level 4, also eine frühe Form des automatisierten Fahrens, durchsetzen. Das Spektrum «Autonomes Fahren» wird aber einen enormen Einfluss auf das Geschäftsmodell der Versicherungen haben – nicht zuletzt durch das steigende Risiko der Manipulation der Systeme von aussen durch Hacker. Auch zur Absicherung dieser Risiken arbeiten die Versicherer an neuen Versicherungs- sowie Präventionslösungen.

Inwiefern wird die Urbanisierung die Nachfrage nach bestimmten Versicherungsprodukten verändern?

Führende Versicherungsunternehmen haben erkannt, dass umfangreiche Stadtentwicklungsprojekte finanzielle Absicherung für alle beteiligten Parteien erfordern, von öffentlichen Institutionen bis zu privaten Bauunternehmen und deren Mitarbeitenden sowie anschliessend für die ausgebaute Infrastruktur. Beispielsweise der Anstieg des Durchschnittseinkommens der Stadtbewohner*innen stellt beispielsweise eine Chance für den Lebensversicherungsmarkt dar. Öffentliche Institutionen können zudem die Expertise von (Rück-)Versicherern für Strategien zum Risikomanagement von Städten nutzen.

Ein wichtiger Punkt betrifft die Individualisierung. Bis 2030 sollen Lebensphasen-basierte Produkte am Markt erscheinen, welche den Versicherungsschutz getrennt nach den klassischen Sparten Leben, Nicht-Leben und Kranken verdrängen werden. Können Sie diese Veränderungen erläutern?

Ein Beispiel dafür ist «Mass–Customization», eine der effektivsten Weisen, den Bedarf der individualistischen Gesellschaft zu decken. Dabei werden seriengefertigte «Waren» an die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse der Konsument*innen angepasst. So erhalten Konsument*innen personalisierte Produkte, deren Kosten sich denen von Massenartikel nähern, was ihre Zufriedenheit und Loyalität sichert. Versicherer erfassen Konsumentendaten und bieten im Gegenzug transparente Prämien, die auf das Kundenverhalten zugeschnitten sind. Dabei fördern die Versicherer – unterstützt durch modernste Technologien Verhaltensweisen, die zu positiven Ergebnissen sowohl für die Kund*innen, zum Beispiel eine bessere Gesundheit oder verringerte Unfallrisiken, als auch für die Versicherung selbst führen.

Naturkatastrophen werden durch den zunehmenden und Klimawandel häufiger. Welche Versicherungslösungen werden hier zum Zuge kommen?

Naturkatastrophen und der damit verbundene Klimawandel sind zwei Schlagworte, die heute mehr denn je als zukünftige Bedrohung der Gesellschaft und damit auch der Versicherer genannt werden. Einer kürzlich von BearingPoint erhobenen Studie hat herausgefunden, dass Nachhaltigkeit bereits heute im Mainstream angekommen ist und in Zukunft verstärkt proaktiv eingefordert werden wird.

81 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz erwartet, dass Versicherer nachhaltiges Verhalten fördern oder in nachhaltige Aktivitäten investieren. Versicherungsunternehmen, die diesen Anforderungen nicht nachkommen, könnten schon bald das Nachsehen haben. Fast jeder zweite potenzielle Kunde würde einen Versicherer mit nachhaltigen Produkten einem vergleichbaren Versicherer ohne solche Produkte bevorzugen (BearingPoint-Stimmungsbarometer Sustainable Insurance).

Sie gehen davon aus, dass die Vernetzung von technischen Geräten weiter stark zunehmen wird. In welchen Bereichen wird dies besonders der Fall sein?

Das Internet of Things (IoT) wird dabei unterstützen, dass viele Bereiche und Aspekte der Gesellschaft verbunden und somit revolutioniert werden. Dies betrifft unter anderem das intelligente Zuhause, die Industrie, das Militär, die Landwirtschaft, die Politik, die Medizin oder auch den Umweltschutz. Die verbundenen Technologien, das Internet der Dinge bieten den Versicherern zusammen mit Daten, intelligenten Geräten und Sensoren bieten den Versicherern viele neue Möglichkeiten. Die Services im Jahr 2030 gleichen im Gegensatz zu den klassischen Versicherungsprodukten nicht nur Schäden aus. Sie sind stattdessen so konzipiert, dass sie aktiv und in Echtzeit an der Schadensverhütung und Risikobewertung mitwirken, sich also vermehrt in Richtung Servicedienstleistungen bewegen.

In welchen Bereichen werden Unternehmen wie Google, Amazon und Facebook in der Versicherungswirtschaft eine immer wichtigere Rolle einnehmen?

Der Kern eines guten Versicherungsproduktes ist es, die Risiken und deren Eintrittswahrscheinlichkeit zu kennen, vor allem aber den Kund*innen mit ihren Bedürfnissen, dem individuellen Sicherheitsbedürfnis und dazugehörigen Ängsten wahrzunehmen. Klar im Vorteil sind hier Unternehmen wie Google, Amazon oder Facebook, die unsere Daten analysieren und unsere Bedürfnisse deshalb kennen.

Was bedeutet dies für Versicherungsbroker und Versicherer?

Im Rahmen der zunehmend bedeutenderen Ökosysteme und Plattformen entstehen neue Kooperationen zwischen Versicherern, Brokern und Big Tech Companies oder Data & Analytics Provider.

2030 soll der Vertrieb vollständig digitalisiert, aber trotzdem persönlich sein. Wie stellen Sie sich das vor?

Der technologische Wandel schafft weitere neue Freiräume. Durch die Automatisierung von Standardabläufen kann eine absolute Konzentration auf die relevanten Aspekte der persönlichen Kundeninteraktion erfolgen. Dies ist ein wesentlicher Baustein in der Schaffung von Kundenloyalität, in welcher Nähe und Verbundenheit geschaffen werden kann. Der Kundenservice arbeitet nicht mehr nur Anfragen ab, sondern bietet proaktive Services und begleitet die Kund*innen gerade in schwierigen Situationen.

Weshalb gehen Sie davon aus, dass Rückversicherungen zunehmend Aufgaben von Erstversicherungen übernehmen werden?

Da es für die Rückversicherer zunehmend schwieriger wird, Margen zu erwirtschaften, haben sich die Rückversicherungen in den letzten Jahren vermehrt auf die Erschliessung neuer Geschäftsfelder konzentriert. Heute haben sie bereits verschiedene neue Wege zur Erweiterung ihrer Wertschöpfungskette eingeschlagen. Durch die enge Zusammenarbeit mit den Erstversicherern haben Rückversicherer ein grosses Know-how im Bereich Erstversicherung aufgebaut und verfügen zudem über viel grössere Datenmengen als die Erstversicherer.

Auf genau diesen enormen Datenmengen bauen viele moderne Unternehmen und Technologien auf. Der Zugang zu diesen Daten, kombiniert mit der Fähigkeit, diese gezielt zu analysieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, wird zu einem bedeutenden Wettbewerbsfaktor im Rahmen des Underwriting & Risiko Management. Rückversicherungen haben sich frühzeitig und ausgiebig dem Thema Big Data angenommen und haben hier einen Vorsprung gegenüber den Erstversicherern, was Technologie und Analyse-Lösungen betrifft. Dies führt dazu, dass Erstversicherer immer mehr Produkte und Service-Leistungen von Rückversicherungen in Anspruch nehmen.

Die Fragen hat Binci Heeb gestellt.


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