Neuria: Dank Spiele-App keine Lust mehr auf Süssigkeiten

7. Juli 2023 | Aktuell Allgemein Interviews
Neuria Digital therapeutics CEO Prof. Dr. Lucas Spierer.
Neuria Digital therapeutics CEO Prof. Dr. Lucas Spierer.

Im vergangenen Jahr hat die CSS in Zusammenarbeit mit dem EPFL Innovation Park den Future Health Grant lanciert. Sein Ziel ist es, mit finanzieller Unterstützung und dem Know-how von Partner*innen aus Forschung und Wirtschaft digitale Gesundheitslösungen voranzutreiben. Neuria Digital therapeutics ist eines der ausgewählten Start-ups. Das Unternehmen hat eine digitale Therapiesoftware entwickelt, die in einem Videospiel versteckt ist.

thebroker wollte wissen, wie man mithilfe eines Videospiels die Nahrungsaufnahme verändern kann und sprach mit Professor Dr. Lucas Spierer, Neurowissenschaftler und CEO von Neuria.

Sie arbeiten seit vielen Jahren als Professor in der neurologischen Abteilung der medizinischen Fachrichtung der Universität Freiburg. Was hat Sie dazu bewogen, Ihr eigenes Unternehmen zu gründen?

Die Midlife-Crisis! Nicht ganz so ernst gemeint, es war der Wunsch, die Ergebnisse unserer Forschung der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um ihnen mehr Bedeutung zu verleihen. Der Weg über ein Start-up-Unternehmen ermöglicht es uns auch, dieses Ziel zu verfolgen und Einnahmen zu generieren, um unsere nächsten wissenschaftlichen Studien zu unterstützen.

Welche Lösungen für Prävention, Diagnose und Behandlung haben Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeiter*innen entwickelt?

Unsere Technologie ermöglicht es, «Verlangen» zu messen und vor allem zu reduzieren, also den starken Impuls, Nahrungsmittel oder andere Substanzen zu konsumieren, die wir mögen (Tabak, Alkohol), trotz der schädlichen Folgen, die dieser Konsum für die Gesundheit haben kann. Wir konzentrieren uns derzeit auf den Konsum von ungesunden Lebensmitteln. Unser Ansatz ist originell, weil er keinerlei Anstrengung erfordert. Die Menschen, die an unseren Interventionen teilnehmen, bemerken nicht einmal, dass sich ihre Essensvorlieben verändern und damit ihr Konsum zurückgeht.

Sie haben das Videospiel «The Diner» für eine gesündere Ernährung entwickelt. Wie funktioniert es?

Es ist ein typisches Arcade-Spiel, ein Reflexspiel, bei dem man nach bestimmten Regeln sehr schnell auf Bilder von Nahrungsmitteln reagieren oder sich zurückhalten muss, um zu reagieren. Die Kontrolle, die die Spieler während des Spiels über ihre Bewegungen ausüben, wird nach und nach verändern, wie sehr sie die Zielnahrung mögen. Und da wir weniger von dem konsumieren, was wir weniger mögen, ändert sich der Konsum auf natürliche Weise. Diese Aufgaben, in Form eines Videospiels, zu präsentieren, dient uns nur dazu, sie einnehmend und unterhaltsam zu gestalten, so wie Süssstoff in einem Hustensirup das Schlucken erleichtert.

Videospiele-App «The Diner»: thebroker durfte einen Blick in das in die 50er-Jahre verortete Spiel werfen und kann es nur empfehlen.
Prozesse der Verhaltensänderung müssen ausgelöst werden. Was genau verändert sich im Gehirn?

Die wiederholten Handlungen, die notwendig sind, um in unseren Spielen zu gewinnen, führen zu Veränderungen im Belohnungskreislauf, der tief im Gehirn vergraben ist. Diese Regionen bestimmen, was wir mögen und wollen. Das ist unsere wissenschaftliche Entdeckung. In mehr als zehnjährigen Studien haben wir eine «Verdrahtung» im Gehirn entdeckt, die die Regionen der Bewegungskontrolle mit denen der Belohnung verbindet. Wenn man die ersteren wiederholt und nach bestimmten Regeln aktiviert, kann man die letzteren beeinflussen.

Ist das Videospiel mit herkömmlichen Diäten vergleichbar?

Nein, unser Ansatz beruht nicht auf Erziehung oder Anweisungen, was man konsumieren sollte und was nicht – diese Art von Selbstkontrolle kann niemand lange aufrechterhalten, deshalb scheitern traditionelle Diäten so oft. Unser Spiel löst eine Art unbewussten Lernprozess aus, der die Aktivität des Belohnungssystems im Gehirn reduziert und so unsere Vorlieben und unseren Konsum verändert. Der Lernprozess dauert etwa 15 Spielstunden und seine Wirkung hält länger als sechs Monate an. Unser Spiel wirkt wie ein «digitaler Impfstoff», der das Verlangen nach der anvisierten Nahrungsmittelgruppe senkt.

Sie legen den Schwerpunkt auf die Reduzierung des übermässigen Konsumverhaltens und seine gesundheitsschädlichen Auswirkungen. Können Sie das in Prozentzahlen genauer definieren?

Unsere veröffentlichten wissenschaftlichen Studien zeigen, dass wir innerhalb von zwei bis drei Wochen, in denen wir mit unserer Smartphone-App spielen, um 20 Prozent reduzieren, wie sehr wir die Zielnahrung mögen und um 20 Prozent, wie viel wir davon konsumieren.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine übergewichtige Person, die täglich Schokolade isst, dies nach dem Spielen eines Videospiels überhaupt nicht mehr tut?

Sie wird weiterhin Schokolade essen, aber 20 Prozent weniger. Das wird sich positiv auf ihre Gesundheit auswirken, da Schokolade viel Zucker und Fett enthält. Dieser Effekt wird eintreten, ohne dass die Person es merkt, und ohne jegliche Anstrengung zur Selbstkontrolle.

Sie haben sich auf Ernährung spezialisiert. Gibt es nicht auch andere Bereiche, zum Beispiel mehr körperliche Aktivität und Sport, die Neuria anbieten könnte?

Wir schaffen es im Moment nur, zu senken, wie viel wir essen und konsumieren wollen, und bald auch Zigaretten und Alkohol. Die Menschen zu Aktivitäten zu bewegen, ist ein Bereich, den wir in Zukunft ausbauen werden.

Sie sagen, dass 15 Stunden Videospielzeit ausreichen, um ein Verhalten zu ändern. Wie lange sollte man jeden Tag spielen?

Idealerweise sollte man die insgesamt 10-15 Stunden auf etwa einen Monat verteilen. Das ist jeden Tag ein bisschen Videospiel, aber ein Videospiel, das sich gut anfühlt. Wir haben das Spiel bei Kindern, Erwachsenen und älteren Menschen getestet, und alle mögen es.

Wie lange hält die Wirkung an, und muss man danach noch einmal 15 Stunden spielen?

Der Effekt hält mindestens sechs Monate an, es ist vorteilhaft, nach dieser Zeit noch einmal ein paar Stunden zu spielen, um den Effekt wieder in Gang zu bringen.

Ihr Ziel ist es, dass vor allem das Risiko von übergewichtigen Menschen, die zu Diabetes, Gicht, Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit und Schlaganfällen neigen, gesenkt wird. Was sind die aktuellen Ergebnisse Ihrer Forschung?

Da wir in erster Linie Wissenschaftler sind, haben wir abgewartet, bis wir uns unserer Ergebnisse sehr sicher sind, bevor wir unsere Interventionen der Öffentlichkeit anbieten. Wenn es uns gelingt, den ungesunden Konsum, insbesondere von Zucker, in einem großen Einzugsgebiet der Bevölkerung zu verringern, werden die Auswirkungen auf die Gesundheitskosten enorm sein.

Wie und wo können interessierte Personen Zugang zu Videospielen erhalten?

In der sehr frühen Phase der Vermarktung, in der wir uns derzeit befinden, möchten wir Partnerschaften mit Versicherern eingehen, die ihren Kunden unsere innovative Lösung anbieten, um deren Gesundheit durch die Vorbeugung und Behandlung von Übergewicht und Diabetes zu fördern und natürlich auch, um die zukünftigen Versicherungskosten für die Erstattung von Behandlungskosten zu senken. Das Anbieten unserer Technologie würde es dem Versicherer darüber hinaus ermöglichen, seine Position als führender Anbieter innovativer und neuartiger digitaler Lösungen für seine Versicherten zu stärken.

Sind die Videospiele kostenlos?

Es gibt verschiedene Optionen für den Versicherer und den Kunden. Da unsere Software die Gesundheit verbessert und somit die Kosten der Versicherer senkt, könnten wir uns vorstellen, dass die Versicherer sie als Mehrwert für ihre Kunden kostenlos anbieten oder ihre Versicherten gegen eine Prämienreduktion zur Teilnahme an einem Programm motivieren. Diese Aspekte werden von Fall zu Fall mit jedem interessierten Versicherer besprochen.

Gibt es bereits erste Krankenversicherer, die «The Diner» anbieten?

Bisher haben wir Gespräche aufgenommen, die hoffentlich bald zu Partnerschaften führen werden. Wir sind natürlich weiterhin sehr daran interessiert, mit jeder Krankenversicherung zu sprechen, die Interesse daran hat, schweizerische, innovative und wissenschaftsbasierte digitale Lösungen zum Wohle der Bevölkerung zu fördern und zu entwickeln.

Die Fragen wurden von Binci Heeb gestellt.

Prof. Dr. Lucas Spierer, CEO, ist Leiter des Labors für Neurorehabilitationswissenschaft der Medizinischen Sektion der Universität Freiburg. Nach seinem Doktorat in klinischen Neurowissenschaften am CHUV und der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne im Jahr 2008 zog er nach Freiburg, um dort sein eigenes Forschungslabor einzurichten. Im Jahr 2022 gründete er mit vier Mitgliedern seines Teams das Startup Neuria.

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