Psychische Störungen: Dramatischer Anstieg der Hospitalisierungen junger Frauen

27. Dezember 2022 | Allgemein Aktuell Interviews
Psychische Störungen: Prof. Dr. med. Alain Di Gallo zum dramatischen Anstieg der Hospitalisierungen junger Frauen. Bild: ©UPK
Psychische Störungen: Prof. Dr. med. Alain Di Gallo zum dramatischen Anstieg der Hospitalisierungen junger Frauen. Bild: ©UPK

Die Zahl der stationären Spitalaufenthalte wegen psychischer Verhaltensstörungen bei Mädchen und jungen Frauen im Alter von 10 bis 24 Jahren stieg gemäss Bundesamt für Statistik BFS in den Jahren 2020 und 2021 um 26 Prozent. Bei gleichaltrigen Männern betrug die Zunahme 6 Prozent.

Über die Gründe spricht thebroker.ch mit Prof. Dr. med. Alain Di Gallo, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche UPKKJ an den Universitären Psychiatrischen Kliniken UPK in Basel.

Herr Professor Di Gallo, die Zahlen sind dramatisch, In welchem Alter sind die Kinder und Jugendlichen mit psychischen Störungen bei Ihnen in der UPKKJ?

Wir behandeln Kinder von der Geburt, etwa von suchtkranken Müttern, bis zum 18. Lebensjahr. Beim Höchstalter sind wir aber nicht so streng. Bei manchen Krankheiten, beispielsweise bei Psychosen, ADHS oder Autismus, kann man anlässlich des 18. Geburtstags nicht einfach stopp sagen. Dasselbe gilt bei Suchterkrankungen. Der Übergang zur Erwachsenenpsychiatrie muss früh geplant und sorgfältig durchgeführt werden.

Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik sind 2020 effektiv dramatisch und 2021 noch dramatischer. Die Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat in dieser Zeit massiv zugenommen. Über unsere Not wurde bereits in vielen Medien berichtet.

Wo liegen die Gründe?

Heute wissen wir, dass bereits vor der Pandemie ein Anstieg zu verzeichnen war. Depressionen bei weiblichen Jugendlichen zum Beispiel haben in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen. Die Pandemie wirkte wie ein Katalysator, der die Zunahme der Erkrankungen deutlich beschleunigt hat. Sie hatte einen viel grösseren Impakt auf das Emotionale und Soziale der jüngeren Bevölkerung. Einfach erklärt sind zwei Jahre bei einem siebenjährigen Kind gefühlt das ganze Leben. Die Angst vor Einsamkeit, dem Verlust von Freund*innen oder vor dem Verlust eines wichtigen Teils des Lebens war bei Adoleszenten sehr gross.

Sie sprechen von einem Anstieg schon vor zehn Jahren. Was meinen Sie damit?

Eine Zunahme der Inanspruchnahme bedeutet nicht immer eine Zunahme der Krankheiten. Ein Punkt ist sicherlich, dass die Stigmatisierung psychischer Krankheiten zurückgegangen ist. Dadurch suchten Eltern schneller die Hilfe von Psychiatern oder Psychologen. So wurde ADHS als ich jung war rein pädagogisch geahndet, während es heute als Krankheitsbild anerkannt wird.

Ein anderer Punkt ist, dass wir in einer sehr belastenden Zeit leben. Natürlich gab es immer Herausforderungen, heute kommen jedoch die weltumspannende Kommunikation und ein immer grösseres Tempo der Veränderungen hinzu. Gefühlt erfahren wir heute viel mehr über Katastrophen als früher.

Zu den Stressquellen gehören Zeitmangel, der Druck durch das Schulsystem, die Kurzfristigkeit, oder die extrem vielen Wahlmöglichkeiten, die zur Verfügung stehen. Es sind alles Faktoren, die dazu führen, dass zwar nicht alle Jugendliche Probleme haben, aber besonders die 15 – 20 Prozent vulnerablen Jugendlichen rascher in eine Krise gelangen.

Auch das Thema Gender ist neu: Binär, non-binär, fluid, asexuell, transsexuell, transgender, transident, omnisexuell, usw. – die meisten Menschen können damit umgehen, und für einige bedeutet es eine grosse Erleichterung, dass sie endlich zu ihrem Empfinden stehen können. Es gibt aber auch solche, die in der Adoleszenz mit diesen Wahlmöglichkeiten nicht umzugehen wissen.

Mein Eindruck ist, dass in meiner Jugend der 60er- und 70er Jahre viel weniger Kinder und Jugendliche zum Psychiater/Psychologen gingen. War dem so?

Sicher, mit psychischen Problemen ging man viel weniger zum Arzt. Manche wurden nicht erkannt, und Misshandlungssituationen oder Übergriffe sexueller Art waren früher kaum Thema. Die Missbrauchten litten still und obwohl es offensichtlich war, wurde es oft verschwiegen. 

Wie gehen die Jugendlichen mit den immer schneller werdenden Entwicklungen um?

Die meisten Jugendlichen können mit den laufend neuen Errungenschaften unserer Zeit gut umgehen. Nehmen wir die Medien: Während die meisten Jugendlichen, die sich viel in den sozialen Medien aufhalten, auch «offline» aktiv sind, verliert sich nur eine Minderheit in der digitalen Welt.

Sind die Betten der UPKKJ, wie in den meisten Kinderspitälern der Schweiz, derzeit ebenfalls alle belegt?

Wir verfügen über ein ambulantes, ein aufsuchendes, ein tagesklinisches und ein stationäres Angebot. Wenn immer möglich, versuchen wir die Kinder und Jugendlichen dort zu behandeln, wo sie leben. Stationäre Aufnahmen sind die letzte Konsequenz. Bezogen auf die Bevölkerung verfügen wir über viel weniger Betten (rund 60 für Basel-Stadt und Baselland) pro Kind/Jugendliche/n als in der Erwachsenenpsychiatrie. Wären diese Betten nicht belegt, wäre die Finanzierung des ganzen Betriebs gar nicht möglich.

Während der Pandemie war der Aufnahmedruck sehr hoch. Wir hatten die Pflicht genau abzuklären, wo dem Kind oder Jugendlichen und der Familie am besten geholfen werden kann. Deshalb arbeiten wir auch immer sehr intensiv mit dem Umfeld (mit Eltern, Schule etc.). Erst wenn das System komplett überfordert ist, nehmen wir ein Kind stationär auf.

Während der Pandemie fanden viel mehr Systemüberlastungen statt. Viele Bezugspersonen der Kinder waren selbst am Limit. Seismographen gleich reagieren Kinder stark auf Erschütterungen ihres stützenden Umfelds, wie beispielsweise die Gereiztheit von Lehrern und Eltern, die sich auf die Kinder überträgt.

Sind Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund psychisch auffälliger?

Migration ist ein sehr heterogener Begriff und lässt sich in Bezug auf psychische Anfälligkeit nicht verallgemeinern. Zur Zeit gibt es sehr viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende im Bundesasylzentrum und im Basler Wohnheim. Diese zum Teil schwer traumatisierten jungen Menschen sind sicher eine Risikogruppe. An beiden Orten arbeiten deshalb Psychologinnen und Psychiater aus unserer Klinik mit den Jugendlichen und den Betreuungsteams.

Worauf führen Sie die viel höhere Zahl von weiblichen gegenüber männlichen Patient*innen zurück?

Eine schwierige Frage. Sie betrifft nur die Adoleszenz, nicht die Kindheit. Einerseits ist es so, dass die Depressionen und Angststörungen, die während der Pandemie am meisten zugenommen haben, häufiger beim weiblichen Geschlecht auftreten. Jungen Frauen fällt es vielleicht auch leichter, es zu zeigen und zu verbalisieren, wenn es ihnen nicht gut geht als jungen Männern.

Bei jungen Männern hingegen sollen vermehrt Störungen durch psychotrope Substanzen verantwortlich sein. Stimmt das?

Die Statistik zeigt, dass diese im ersten Jahr der Pandemie am meisten zugenommen haben. Möglicherweise drücken junge Männer psychischen Stress auch eher mit Verhaltensauffälligkeiten aus. Wir müssen den Blick also auch auf sie werfen, wenn sie noch nicht so offensichtlich psychiatrisch auffällig sind.

Wie stark stieg die Hospitalisation der Kinder und Jugendlichen 2021?

Die Statistik zeigt, dass 2021 die Hospitalisationen gerade bei den 10 bis 14-jährigen weiblichen Jugendlichen massiv zugenommen haben. Bereits in diesem Alter sind Essstörungen, Selbstverletzungen und Suizidalität ein grosses Problem.

Natürlich interessieren uns Ihre Prognosen für die nächsten Jahre. Lassen sich diese Zahlen wieder korrigieren?

Ich bin zurückhaltend, gehe aber nicht davon aus, dass es eine Abnahme geben wird. Wir leben in einer instabilen Welt mit vielen existentiellen Herausforderungen, und ich denke, dass die Inanspruchnahme bleiben, wenn nicht sogar grösser werden wird. Das wird die bereits heute bestehende Mangelversorgung in der Kinderpsychiatrie und -psychologie weiter verschärfen.

Trotzdem dürfen wir das Vertrauen in die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen nicht verlieren. Den meisten gelingt es, trotz aller Herausforderungen, ihre Entwicklungsaufgaben gut zu meistern und für ein gesundes Erwachsenenleben zu nutzen.

Die Fragen wurden von Binci Heeb gestellt.

Beruflicher Werdegang: Studium der Medizin von 1981-1987 in Fribourg und Basel. 1987 Staatsexamen und 1990 Promotion an der Universität Basel. Zweijährige Tätigkeit in Innerer Medizin im Universitätsspital Basel und im Gemeindespital Riehen sowie 18 Monate Assistenzzeit in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Liestal. 1992 Beginn der Weiterbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik in Basel. 1995 Facharzttitel für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Anschliessend 15 Monate Forschungsaufenthalt in Glasgow. Nach der Rückkehr aus Schottland Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Basel und Liaisonpsychiater auf der onkologischen Abteilung des Universitäts-Kinderspitals beider Basel. Nach zwischenzeitlicher einjähriger oberärztlicher Tätigkeit am Universitätsklinikum Heidelberg 2005/2006, Rückkehr an die Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel als Leitender Arzt und Chefarzt-Stellvertreter. Von Januar 2011 bis Juli 2012 Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrie Baselland. Seit August 2012 Chefarzt und seit Januar 2015 Klinikdirektor der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

2004 Habilitation und seit 2011 Titularprofessur für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Basel.

Seit 2011 Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP). Seit 2020 Co-Präsident der Schweizerischen Vereinigung der Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychiater (FMPP). 2021 und 2022 Mitglied der Swiss National Covid-19 Science Task Force.

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