Versicherungen für Muslime: Gespräch mit einem Experten

8. April 2022 | Aktuell Allgemein
Versicherungen für Muslime: Michael Gassner, Signierung in Volketswil.
Versicherungen für Muslime: Michael Gassner, Signierung in Volketswil.

Im Beitrag «Versicherungen für Muslime: Vom Koran weitgehend verboten» ging thebroker.ch den Gründen des Versicherungsverbotes im Islam nach. Heute sprechen wir mit dem Experten Michael Gassner, der in seinem Buch: «Islam, Geld und Wohlstand» von Abzahlungskauf bis Zinsverbot über alle Themen rund um Geld und Wohlstand im Islam berichtet. Für Christ*innen ist das Thema Zinsverbot nicht mehr präsent, doch seit es Nullzins oder Negativzinsen gibt, heisst die Herausforderung erneut: Wie können wir ohne Zinsen. investieren?

Wie kommt es, dass Sie sich so gut im islamischen Recht auskennen?

2003 habe ich begonnen mich damit auseinanderzusetzen, wie islamische Produkte unter deutschem Recht und Bankenregulierung dargestellt werden könnten. 2007 veröffentlichte ich zusammen mit Dr. Wackerbeck mein erstes Buch für Banker und Finanzfachleute zum Thema. Beruflich habe ich das Thema Islam und Finanzen zunächst bei der Bank AlJazira in Jeddah eingebracht und dort mit dem Scharia Board zusammengearbeitet – seit 2008 arbeite ich in der Schweiz an der Strukturierung einer Plattform für Islamic private banking.

Vor gut zehn Jahren bin ich zudem in das Scharia Board der Bosnia Bank International berufen worden. Meine Kenntnisse kommen also aus der Praxis und sind autodidaktisch erworben. Spezielle Weiterbildungen wurden noch nicht im angeboten. Die Islamic Finance Qualification (IFQ) wurde von der Banque du Liban (Libanesische Zentralbank) initiiert und gemeinsam von der Ecole Supérieure des Affaires (ESA) und der CISI gegründet.

Sind Sie selbst Muslim?

Ja, ich bin vor gut 25 Jahren konvertiert, nachdem ich zunächst begonnen hatte, Arabisch aus Karrieregründen zu lernen. Der Mensch denkt, Gott lenkt.

Für Christ*innen ist das Thema Zinsverbot nicht mehr präsent, doch seit es Nullzins oder Negativzinsen gibt, heisst die Herausforderung: Wie investieren ohne Zinsen. Weshalb sind Zinsen für Muslime verboten?

Zunächst wurde der Geldzins als nachteilig verurteilt. Die erste Offenbarung im Koran bezieht sich dann auf den Zinseszins/Verzugszins, der verboten wurde – damit wird das untragbare Exponentialwachstum von Schulden unterbunden. Das Verbot des Geldzinses war der nächste Schritt, damit der Zinseszins nicht mehr durch Leihe bei Dritten einen treffen. Kapitalerträge wie Miete oder Gewinne sind nicht durch das Verbot betroffen.

Das Zinsverbot ist ein sehr wichtiges Verbot, so müssen alle Versicherungsverträge vollständig frei von Zinselementen sein. Wie kann trotzdem ein Vertrag abgeschlossen werden?

Riba, der Geldzins, wird in zwei Bereichen eingeteilt: Einmal die Vermögensanlage, was gemäss europäischen Anlagerichtlinien in Franken oder Euro schwierig wird. Zum anderen betrachte der Gelehrte Ibn Abidin die Auszahlung eines Schadens, wenn dieser höher als die Prämien ist ebenfalls als Riba und die Unsicherheit der Auszahlung ebenfalls damit auch als unzulässig (Verbot des sogenannten Gharar). Ein anderer Gelehrter namens Mustafa Zarqa sah jedoch auch kommerzielle Versicherungen als solidarisch an und damit als zulässig – dies ist heute jedoch eine Minderheitenmeinung.

Warum sind Versicherungen für Muslime nicht Koran-konform?

Die kommerzielle Versicherung verstosse laut Koran gegen das Verbot des Riba (Geldzins) und Gharar (exzessive Unsicherheit).

Statt Versicherungen existiert im Koran die Sozialabgabe Zakat. Wie gestaltet sich diese?

Die Sozialabgabe Zakat wird auf verschiedene Vermögenswerte erhoben und ist eine der Säulen des Islam, und damit eine Pflichtabgabe. Zum Beispiel wird für Geld und Handelsgüter 2.5 Prozent vom Vermögen abgabepflichtig, bei Landwirtschaft fünf Prozent bei bewässerten Flächen der Ernte. Über die Freigrenze hinaus ist es daher attraktiver, Geld in Immobilien anzulegen oder lieber produktiv als Geldwerte zu investieren.

Es gelten verschiedene Rechtsmeinungen bezüglich Versicherungen für Muslime im Islam. Welche sind dies?

Grundsätzlich geht die Mehrheit der Gelehrten von einem Verbot kommerziellen Versicherung aus. Erlaubt wäre die kooperative Versicherungsform, die rein solidarisch ist, sowie nicht gewinnorientierte Solidargemeinschaften. Die Mindermeinung wird heute allerdings auch noch von Diyanet der türkischen Religionsbehörde, vertreten. Diese hat viele Anhänger*innen in Deutschland und der Deutschschweiz.

Welcher Rechtsmeinung wird hauotsächlich von gläubigen Muslim*innen in der Schweiz gefolgt?

Die meisten Muslim*innen in der Schweiz folgen der Mehrheitsmeinung, wissen aber oft gar nicht von der Mehrheitsmeinung der Gelehrten. Der Geldzins als Argument ist nicht gleichermassen offensichtlich wie beim Bankdarlehen.

Wie sieht es mit Solidargemeinschaften und Versicherungen aus?

Solidargemeinschaften gibt es in den muslimischen Gemeinden vor allem zur Bestattungsvorsorge, wo neben der finanziellen Hilfe auch rituelle Unterstützung und Trost geboten wird.

Ist eine Versicherung mit einem Tauschhandel gleichzusetzten?

Das ist das zentrale Problem in der Einordnung der Versicherung: Gehen wir von Tausch und damit Kaufvertragsrecht aus, fehlt das Vertragsobjekt – weil Risiko nicht als Objekt im islamischen Recht anerkannt wird. Geld gegen Risiko zu tauschen, geht also nicht. Solidarität hingegen ist wünschenswert.

Es gilt das Spekulationsverbot. Wann wird eine Versicherung zur Spekulation?

Dabei geht es um das Verbot des Gharar, in Deutsch auch als aleatorische Risiken bekannt. Hierbei sahen Gelehrte in der kommerziellen Variante den unbestimmten Schadensfall als spekulativ an. Käufer*innen überlegen sich ja ob sich die Versicherung lohnt: «Bekomme ich mehr als ich gebe?» Die Solidarität und solidarisches Verhalten tritt zurück in der Betrachtung in den Hintergrund.

Existieren Halal-Versicherungen im DACH-Raum?

Es gab eine islamische «Lebensversicherung» der FWU in München – ein Anbieter, der im Whitelabel Geschäft ist und stark in muslimischen Ländern, die wieder eingestellt wurde. Andere, insbesondere Sachversicherungen, gibt es bislang nicht im Angebot.

Welche Versicherungen können gläubige Muslim*innen überhaupt abschliessen, um den Gesetzen des Koran zu folgen?

Pflichtversicherungen gelten als unstrittig zulässig, Versicherungen, die in einem Mietvertrag oder ähnlichem eingebunden sind, werden auch oft noch akzeptiert. Meine Empfehlung wäre für Muslim*innen in der DACH Region wäre, genossenschaftliche Versicherungen aus dem allgemeinen Bedürfnis heraus zu berücksichtigen, die von unabhängigen (also provisionsfreien) Berater*innen als dringend notwendig erachtet werden: Beispielsweise die Versicherung bei Berufsunfähigkeit oder die Privathaftpflichtversicherung (die ja teils in der Schweiz von Vermietungen verlangt wird). Diese Versicherungsprodukte kommen nahe an die islamischen Versicherung (nur die Veranlagung des Vermögens ist unzulässig, die kooperative Versicherung als Hauptsache gemäss des Fatwa-Kommitees der Organisation islamischer Länder erlaubt). Dies als ein Mittelweg zwischen Mehrheitsmeinung, Minderheitsmeinung und den besonderen Erschwernissen mangels islamisch möglicher Angebote.

Welche Versicherungen sind nicht korankonform und können folglich nicht abgeschlossen werden.

Private Rentenversicherungen und Annuitäten, lehnen Gelehrte weiter ab. Islamisch strukturierte Versicherungen, wie Takaful (die Verwaltung arbeitet kommerziell, der Pool der Versicherten solidarisch) und Tawuni (genossenschaftliche, nicht gewinnorientierte Versicherung) könnten eine breite Palette abdecken. Eine besondere Schwierigkeit stellt die Veranlagung der Vermögenswerte in Europa dar, weil die Anlagerichtlinien für den Deckungsstock zu unerlaubten festverzinslichen Wertpapieren tendieren.

Michael Gassner lebt und arbeitet in Genf. Er ist hauptberuflich tätig als Head of Islamic finance in einer Schweizer Privatbank. Er ist zugleich Mitglied des Scharia Boards der Bosnia Bank International in Sarajevo. Nach einer Bankausbildung lernte er während seines Wirtschaftsstudiums zum Diplom-Kaufmann mit den Schwerpunkten Finanzierung, Marketing und Wirtschaftsgeschichte Arabisch.. Sein Auslandssemester verbrachte er in Damaskus. Nach dem Berufseinstieg in der ‘New Economy’, arbeitete er als Finanzberater bei MLP und spezialisierte sich danach auf Islamic finance. In die Schweiz wanderte er ein aus Jeddah ein, wo er bei der Bank Al Jazira die islamische Produktentwicklung betreute.

Michael Gassner: Islam, Geld und Wohlstand – Ein Handbuch über Finanzen und Vorsorge

  • Softcover:       ISBN: 978-3-347-54244-0
  • Hardcover:      ISBN 978-3-347-54251-8
  • eBook:            ISBN 978-3-347-54256-3

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